Das Entweder-Oder-Prinzip Eine Recherchereise
Seit 2012 stürmt eine von afrikanischen Sounds und Tänzen beeinflusste Generation die französischen und europäischen Charts.
Junge Leute mit „afrikanischem Migrationshintergrund“ kombinieren Elemente aus europäischem und amerikanischem Rap und Trap mit tanzbaren afrikanischen Rhythmen und Melodien zu Stilhybriden. Die Musikstile tragen verschiedene Bezeichnungen, die auf ihren hybriden Charakter verweisen, am bekanntesten ist der Afrotrap, ein Genre, das von MHD (Jahrgang ’94), einem französischen Rapper mit senegalesischen und guineischen Wurzeln klar besetzt wurde. Nach der Erfolgsserie von Afrotrap 1 bis 10 standen MHD fast alle Türen offen und er veröffentlichte ein weiteres Album. In den begleitenden Interviews war MHD jedoch eher ernst und kündigte an, aus dem Musikbusiness aussteigen zu wollen. Dieses Leben, immer im Rampenlicht zu stehen, das passe nicht zu ihm.
So etwas zu hören war ungewöhnlich in dem oft heiteren oder zumindest kampfbereiten Milieu der franko-afrikanischen Rapper. MHD stand bis dahin für viele für den Traum vom schnellen Aufstieg, von Reisen, Videos und Featurings mit den größten Playern des afrikanischen und europäischen Kontinents. Gleichzeitig zeigte er sich verankert in der Community, in seinem Stadtviertel im 19. Bezirk von Paris. Der Stadtteil und seine Freunde sind in seinen Videos oft zu sehen.
Ich wollte mit diesem Projekt den Fokus auf dieses positive Selbstverständnis legen, mit dem eine neue Generation franco-afrikanischer Jugendlicher ihre Doppelidentitäten in ihrer Musik und ihren Tänzen stolz hör- und sichtbar macht. Paris und Dakar zugleich – nicht Entweder-oder. MHDs Interviews und der Songtext von XIX gaben da allerdings ganz andere Hinweise. Es stellte sich als eine Belastung heraus, all das als Idol zu verkörpern zu müssen.
Wenig später folgte die Verhaftung von MHD und Mitgliedern seiner Crew wegen Todschlags. Ein Video belegt die Tat, aber noch ist unklar, inwieweit MHD in diese verstrickt gewesen ist. Eines jedoch ist klar: Die Doppelidentität hatte auch mindestens eine negative Seite für ihn. Die Treue zum Pariser Stadtteil, in dem er aufwuchs und immer noch wohnt, ist zugleich auch eine Treue zu einer Gang-Logik, in der es oft um Vorherrschaft und Revanche geht und von der man sich nicht einfach mal lossagt. Der Erfolg, das Geld, gute Aussichten können ihn vor den Schattenseiten dieser Logik nicht bewahren, solange er mit diesen Leuten aus dem Stadtteil, die ja auch Teil seiner Songs sind, so verbunden ist. Es fällt nicht leicht, darüber zu schreiben, aber es zu ignorieren, ist auch keine Option.
Nun zum Film, zu unserer Recherchereise. Der erste Vorsatz: Es soll eine Recherche mit den Protagonist*innen der urbanen Tanz- und Musikszene werden, nicht über sie. Es soll um die Stilhybride gehen und um ihre Hauptquellen. Also reisten wir erst mal dorthin, wo die Tanzkarriere für Ordinateur, Annick Choco und Gadoukou la Star begann und wo ich vor 17 Jahren zum ersten Mal die schnellen elektronischen Beats in den allgegenwärtigen Clubs hörte und die Tänzer*innen kennenlernte. Wir reisten nach Abidjan, einer Millionenmetropole der Elfenbeinküste und neben Paris Hauptstadt des Tanzstils Couper Decaler. Jean Rouch hat vor 60 Jahren dort einen Film gemacht, er heißt Moi un noir und natürlich ist nicht Jean Rouch der Schwarze, das Ich, um das es geht, sondern die jungen Männer, denen er mit der Kamera bei Arbeit und Freizeit folgte. Damals in den 60ern hatte Abidjan erst drei Stadtteile, Treichville, Adjame und das moderne Plateau, das bei seinem Entstehen Aufbruchsstimmung verbreitete. Großbaustellen und der Hafen boten temporäre Arbeitsplätze, Treichville hatte die Tanzbars und billigen Hotels für danach, auch davon erzählt der Film. Der Blick mit dem Jean Rouch auf die Stadt schaute war sein eigener, aber der Sprachkommentar kam vor allem von Oumarou Ganda, einem der drei jungen Männer, den Stars des Films. Sie kamen als Gastarbeiter aus Nigeria, um in der Elfenbeinküste ihr Glück zu suchen. Neben den Intros von Jean Rouch kommentierte vor allem Oumarou Ganda die Bilder, auf denen er und die anderen zu sehen waren, und wurde damit Herr der Bedeutungen und Stimmungen. Ein Versuch gemeinsamer Autorenschaft, der Dokumentation und Fiktion verband.
Und so haben auch wir gefilmt: Erst mal die Bilder, später der Kommentar von den Gefilmten, der bei der Vorführung des Films live eingesprochen wird. Der Kommentar soll lange ein live Gesprochener bleiben, um sich von Kontext zu Kontext verändern zu können. Abidjan ist die Stadt, in der sich die Protagonist*innen des Films schon als Kinder für’s Tanzen für Geld entschieden hatten und so wurden sie in den 2010er Jahren zu zentralen Figuren des wuchernden Nachtlebens der Stadt.
Wir führen den Kameramann Félix Schoeller nach Yopougon, das Viertel, in dem Vergnügungslokale und Wohnquartiere am dichtesten beieinander liegen und in dem Ordinateur aufgewachsen ist. Dort also treffen wir auf dem Platz CP1 ein, kurz für Court Primaire 1, das heißt erste Grundschulklasse. Das ist allerdings nicht der Name einer Schule, sondern der eines legendären Open-Air-Tanzlokals, das man früher auch mit wenig Geld besuchen konnte. Das Lokal gibt es nicht mehr, aber es bleibt Namensgeber für diesen Platz. Jede und jeder kennt Ordinateur und ist froh, ihn wiederzusehen, nachdem er vor drei Jahren nach Frankreich gezogen ist. Eines der über tausend Tanzkonzepte, die er tanzte, ist der Konami, der Tanz zum digitalen Fußballspiel, erfunden von Magic Feet selbst, wie Ordinateur genannt wird. Als er PS-One Konami, einen Klassiker des Couper Decaler, abspielt, füllt sich der Sandplatz der Open-Air-Bar. Immer mehr Leute tanzen Konami mit Ordinateur und feiern ihren Tanzstar. Der Song PS-One Konami von Skelly und Joe le Magicien hat kaum übersetzbare Textzeilen, man hört erfundene Lautkombinationen, sogenannte Animationen, auf die man besonders genau die Tanzschritte setzen kann. Auf unseren Wunsch tanzt Ordinateur an den Torpfosten des Fußballfelds, in dem gerade ein Spiel läuft, haut aber schnell wieder ab, denn jede Domäne will respektiert werden.
Annick Choco und Poisson de Neige haben sich für ihren Dreh ein paar Straßen weiter Schuluniformen besorgt und die Rocklänge etwas kürzen lassen, um dann inmitten der Schüler*innen aufzutauchen, die bei Schulschluss am späten Nachmittag scharenweise durch die Straßen laufen. Viele der Schülerinnen sehen in den beiden jungen Frauen Vorbilder für das Tanzgeschäft. Denn es ist noch immer schwer für junge Frauen, sich in dieser Branche langfristig durchzusetzen. In wenigen Minuten können sich sehr viele Menschen um den Dreh versammeln und den Platz verengen, Félix entscheidet in jeder Sekunde wie er filmt. Planung und vor allem die Logik des Moments werden den Film ausmachen.